The Journal of Seventeenth-Century Music

The Journal of Seventeenth-Century Music

Menu

Items appearing in JSCM may be saved and stored in electronic or paper form and may be shared among individuals for all non-commercial purposes. For a summary of the Journal's open-access license, see the footer to the homepage, https://sscm-jscm.org. Commercial redistribution of an item published in JSCM requires prior, written permission from the Editor-in-Chief, and must include the following information:

This item appeared in the Journal of Seventeenth Century Music (https://sscm-jscm.org/) [volume, no. (year)], under a CC BY-NC-ND license, and it is republished here with permission.

Libraries may archive complete issues or selected articles for public access, in electronic or paper form, so long as no access fee is charged. Exceptions to this requirement must be approved in writing by the Editor-in-Chief of JSCM.

Citations of information published in JSCM should include the paragraph number and the URL. The content of an article in JSCM is stable once it is published (although subsequent communications about it are noted and linked at the end of the original article); therefore, the date of access is optional in a citation.

We offer the following as a model:

Noel O’Regan, “Asprilio Pacelli, Ludovico da Viadana and the Origins of the Roman Concerto Ecclesiastico,” Journal of Seventeenth-Century Music 6, no. 1 (2000): par. 4.3, https://sscm-jscm.org/v6/no1/oregan.html.

Volume 6 (2000) No. 2

Marin Marais. Pièces en trio pour les flûtes, violons & dessus de viole, 1692 (facsimile edition). La Musique française classique de 1650 à 1800, 5638.Courlay: Fuzeau, 1999. 3 part books. [ISMN M-2306-5638-2. FF 454.98 ($78).]

Reviewed by Herbert Schneider*

1. Marais und die französische Kammertrio

2. Die Suiten

3. Die Ausgabe

Reference

1. Marais und die französische Kammertrio

1.1Marin Marais gehört als Gambenvirtuose, als Kammermusiker und seit der Aufführung von Lullys Atys im Jahre 1676 als Mitglied des “petit chœur” im Orchester von Lullys Académie Royale de Musique zu den berühmtesten Musikern und Komponisten am Hof Ludwigs XIV. Am 1 August 1679 erhielt er das Patent als “joueur de viole de la musique de la Chambre”, das Colbert und der König eigenhändig unterschrieben. Seit etwa 1685 trat Marais auch als Komponist hervor, zunächst von Gambenstücken, die primär für seine Schüler bestimmt waren, und im April 1686 zu dem Zeitpunkt, als Lully beim König in Ungnade gefallen war, mit einem dem König huldigenden Idylle. Sein erstes Buch der Pièces à une et à deux violes (1686) widmete er Lully. Nach dessen Tod schuf er zusammen mit Lullys Sohn Louis seine erste Tragédie en musique Alcide (1693) und später sein berühmtestes Bühnenwerk, Alcyone (1706).

1.2Seine Pièces en trio erschienen 1692 als Notenstich im Druck, der hier als Faksimile vorliegt. Eine weitere Triosammlung kam erst 1723 unter dem Titel La Gamme et autres morceaux de symphonie pour le violon, la viole et le clavecin heraus. Der Druck von 1692 ist Marie-Anne Roland gewidmet, von Marais als Musikerin und Tänzerin geschätzt, die sich durch ihre “délicatesse”, ihre “facilité à bien chanter et bien jouer de toutes sortes d’instruments”, ihr gutes Urteil über alle “savantes productions de l’esprit” und ihre Fähigkeit auszeichnete, “à marquer noblement les plus beaux mouvemens de la danse”. Sie trat erstmals neben professionellen Tänzerinnen 1685 in Lullys Le Temple de la paix auf und war durch die Patenschaft von Marais’ Sohn Anne Marc auch persönlich mit dem Gambisten eng verbunden. Die Widmung macht deutlich, dass diese Kammersuiten ausdrücklich für Marie-Anne Roland, also nicht für den Hof komponiert wurden.

1.3Wie die Auseinandersetzungen zwischen François Raguenet und Le Cerf de la Viéville sowie die Diskussion in mehreren Traktaten Johann Matthesons belegen, stellt die französische Kammertrio bzw. die Suite in Triobesetzung ein Gegenstück zur italienischen Sonata da chiesa dar. Sogar der Propagandist der italienischen Musik, François Raguenet, erkannte die Qualität des Trio de la chambre und sah einen wesentlichen Unterschied in der exponierteren und damit klanglich günstigeren Lage der ersten Diskantstimme in der italienischen Triosonate (ihm zufolge um eine Quart häher als der Dessus in der franzõsischen Gattung). Der in Marais’ Druck von 1692 geforderte Gesamt-Ambitus ist in den beiden Oberstimmen nahezu gleich (f' bis d''' bzw. f' bis cis'''), wobei in den streng polyphonen Sätzen von beiden Stimmen meist der gleiche Ambitus verlangt wird, während in den gebundenen Tänzen der Second dessus in der Regel eine Terz unter der Oberstimme verbleibt. Die alternative Besetzung mit Streichern oder Bläsern und das dilettierende Publikum, an das sich der Druck Marais’ richtete, legten diese Beschränkung des Ambitus nahe. Die Besetzung ist im Titel des Druckes offen gelassen, aber die tiefste Note in beiden Dessus-Stimmen ist f' und ist auf der Flûte à bec auszuführen. Die reich bezifferte Bassstimme erreicht im C3- und C2-Schlüssel das f''. Der Komponist macht keine Angaben darüber, welches Instrument die Akkorde nach seinen Vorstellungen auszuführen hat. Die Ornamentik ist, wie in der Ensemblemusik der Epoche üblich, auf + als Ornamentzeichen beschränkt.

2. Die Suiten

2.1 Der Druck enthält insgesamt 66 Stücke in sechs Suiten in den Tonarten C-Dur (11 Stücke), g-Moll (13), D-Dur (12 und “Double” der Gavotte), B-Dur (11), e-Moll (10) und c-Moll (9). Einleitungssatz ist jeweils ein Prélude. Auch Sarabande (darunter zweimal “Sarabande lente”), Menuett und Gavotte sind in allen Suiten vertreten, die Gigue nur in den Suiten II, III und V, die Loure nur in I, Branle de village und Rigaudon nur in III. In der zweiten Suite folgen zwei Passacailles aufeinander, darunter die zweite mit dem Zusatz “petite”, während die Passacaille lente der Suite in c-Moll den programmatischen Titel “La désolée” trägt. Unter den freien Sätzen ist die Fantaisie in fünf Suiten jeweils in sehr verschiedener Ausprägung vertreten, Caprice jeweils in den letzten drei Suiten sowie eine langsame “Symphonie” in der III. Suite. Unter den beiden Airs steht jenes der g-Moll-Suite durch sein 2er Metrum und die laufende Sechzehntelbewegung dem Typus des “Air des démons” nahe. Jeweils einer der Plaintes steht in Moll und in Dur. Als erster Komponist hat Marais den Begriff “Bagatelle” für ein Instrumentalstück verwendet, das im 3er Metrum steht und an dessen imitatorischem Spiel alle drei Stimmen beteiligt sind.

2.2 Das Prélude der ersten Suite mit einem langsamen Teil in geradem Takt und punktiertem Rhythmus, der auf der Dominante schliesst, und einem zweiten Teil im raschen 3/8-Takt und imitatorischem Einsatz der drei gleichberechtigten Stimmen, gleicht einer klein proportionierten französischen Ouvertüre. Die Fantaisie dieser Suite basiert auf der Verarbeitung eines Themas, das zu Beginn des zweiten Teils in rhythmisch frei behandelter Umkehrung durchgeführt wird. In den beiden Menuetten der C-Dur-Suite liegt der schlichteste Typ dieses Tanzes mit der Identität der beiden ersten Viertakter vor. Unbestrittener Hähepunkt der C-Dur Suite ist die Chaconne mit ihren grossen Dimension und grossen Gestaltungsvielfalt. Marais verzichtet zwar auf modulierende Couplets, aber durch das Alternieren von Trio- und allen drei möglichen Duett-Besetzungen, durch den Mittelteil in Moll (20 Couplets in Dur, Mittelteil mit 36 Couplets in Moll und abschliessenden 26 Couplets in Dur) und durch seine fantasievolle Variationstechnik schafft er trotz seiner grossen Länge einen kurzweiligen Satz. Abgesehen von sechs Couplets liegen immer identische Couplet-Paare vor.

2.3 Das Prélude der e-Moll-Suite, das dem Ricercar bzw. kontrapunktischen Sätzen in Triosonaten des Venezianers Giovanni Legrenzi nahesteht, zeigt eine vielgliedrige Gestalt mit wechselnder Kombination der drei Stimmen untereinander und kontrastierenden thematischen Gedanken. Die kurze zweiteiligen Fantaisie dieser Suite ist durch die Chromatik charakterisiert. An die Verarbeitung dreier Themen schliesst sich in der Caprice die veränderte Verarbeitung des Anfangsthemas im letzten Teil an. Die Erwartung des Hörers wird im nachfolgenden Rondeau dadurch enttäuscht, dass nur der erste Viertakter als Refrain wiederkehrt. In der abschliessenden Passacaille, in der Trio- und zwei verschiedenen Besetzungen mit Basse continue alternieren, wird die Chromatik in Gestalt des Quartgangs wieder aufgegriffen.

2.4 Das Prélude der B-Dur-Suite ist pointiert auf die Intensivierung des Rhythmus hin angelegt. Beide im 3/2-Takt stehenden “La Marianne” betitelten Stücke—die Widmung lässt vermuten dass es sich um Porträts von Marie-Anne Roland handelt—sind durch grosse melodische Sprünge, eine rhythmisch die zweite Takthälfte akzentuierende Figur und den Dur-Moll-Wechsel charakterisiert. Auch in der durchkomponierten “Plainte” mit einer Reprise des Anfangsbasses im letzten Teil schafft Marais ohne eine allzu stark akzentuierte Chromatik durch die ständigen Vorhalts- und mehrere Trugschlussbildungen den spezifischen Plainte-Charakter. Insgesamt hat sich Marais um eine sehr abwechslungsreiche Gestaltung der in allen Suiten vorkommenden Tänze und freien Sätze bemüht.

3. Die Ausgabe

3.1Nachdem bereits 1982 in der Reihe “Archivum Musicum. L’Art de la flûte traversière” im Studio per edizioni scelte in Florenz ein Reprint der drei Stimmbücher der Pièces en trio von Marais in erheblicher verkleinertem Druckbild erschienen war und darum auch für das Musizieren nur bedingt brauchbar ist, wurde nun in der sehr verdienstvollen, von Saint-Arroman editierten Serie “La musique française classique” ein neuer Reprint im Originalformat herausgebracht. Der insgesamt hervorragende Stich von Bonneuil ist nur auf der Seite 45 des Premier Dessus problematisch, da hier der Stecher das Stück auf engstem Raum zu Ende bringt, um das Seitenwenden vor dem Abschluss der Passacaille zu vermeiden.

3.2 Der Erfolg der auch für Dilettanten spielbaren Triosuiten von Marais lässt sich daran ablesen, dass Etienne Roger schon ungefähr 1700 einen Raubdruck veröffentlichte.


Reference

* Herbert Schneider (hesch@mx.uni-saarland.de) is Professor of Musicology at the University of the Saarland in Saarbruecken in Germany. His career has centered on the history of French music from the seventeenth to the early twentieth centuries, history of opera, and music theory. He is general editor of the new critical edition of the works of J.-B. Lully. Return to beginning