The Journal of Seventeenth-Century Music

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Noel O’Regan, “Asprilio Pacelli, Ludovico da Viadana and the Origins of the Roman Concerto Ecclesiastico,” Journal of Seventeenth-Century Music 6, no. 1 (2000): par. 4.3, https://sscm-jscm.org/v6/no1/oregan.html.

Volume 9 (2003) No. 1

Die Anfänge von Oper und die Probleme der Gattung

Silke Leopold*

Abstract

It is misleading to place the birth of a new genre, opera, in the year 1600. The earliest works that we choose, in retrospect, to call operas were actually representatives of already-existing dramatic genres transformed by sung dialogue. The features that define opera as a distinct theatrical genre, on the other hand, emerged only later.

1.  Die Geburt der Oper

2.  Die Verbindungen der frühen Oper zu den traditionellen dramatischen Gattungen

3. Ergebnisse

Anmerkungen

Beispiel

1. Die Geburt der Oper

1.1 Nino Pirrotta, dessen Schriften über die Anfänge der Oper, wir alle, die wir hier sitzen, unendlich viel verdanken, hat seinen zentralen Aufsatz „Early Opera and Aria” mit einer Festlegung der Geburtsstunde der Oper eröffnet, die gleichzeitig eine Definition dessen abwirft, was nach seiner Meinung „Oper” sei:

Few other genres have their beginnings as precisely determined as opera. Its landmark is the first performance of Euridice, with music by Iacopo Peri on a text by Ottavio Rinuccini, which took place on the evening of 6 October 1600, in the Pitti palace in Florence in the apartment of Don Antonio dei Medici, a half brother of the future queen of France, Maria dei Medici. We must dismiss any proposal to consider Dafne, music by Jacopo Corsi and Iacopo Peri on a text also by Rinuccini, as the starting point, not because the dates of its various performances are uncertain and a complete score missing, but because both the text and the few surviving fragments of the music make this work seem immature and preliminary compared to the full-fledged vitality of Euridice. Also to be dismissed is the challenge coming from Il rapimento di Cefalo, text by Gabriello Chiabrera and music for the greatest part by Giulio Caccini, which was performed three days later than Euridice, on 9 October, but which was given in the huge Sala delle commedie of the Uffizi palace as the major spectacle (offered by Grand-duke Ferdinand I himself) in the series of events celebrating the marriage of Maria dei Medici to Henry IV of France and Navarre.1

1.2 Dezidiert stellte sich Pirrotta mit diesen Äußerungen in die Tradition eines Geschichtsbildes, das in den Florentiner Camerate seinen Anfang nahm und bis heute nachwirkt—die Auffassung, daß Oper vor allem anderen etwas mit der klassischen Antike, ihren Themen, ihren Theaterformen, ihrer Musikkultur zu tun habe. Dieser Mythos, in Florenz vor vierhundert Jahren entstanden, beherrscht auch heute noch die Operngeschichtsschreibung. Denn bei allen Einwänden, die Pirrotta gegen die Benennung zweier anderer Werke im Umkreis der EuridiceDafne und Il rapimento di Cefalo—hatte, weil ihnen keine weiterführende Rezeption beschieden war, wäre ihm doch andererseits nicht in den Sinn gekommen, etwa Cavalieris Rappresentatione di anima et di corpo als Geburtsstunde der Oper zu benennen, obwohl die zentrale Idee der Oper, das „recitar cantando”, hier erstmals formuliert wurde und zum Zeitpunkt ihrer Publikation noch nichts darauf hindeuten konnte, daß dieses Werk im nachhinein eine Inkunabel des Oratoriums werden sollte.2

1.3 Weit davon entfernt, meinerseits neue Quellen präsentieren zu können, anhand deren nun endgültig geklärt werden könnte, was die Oper von anderen benachbarten Gattungen unterscheidet, möchte ich die Gelegenheit eines Eröffnungsreferats dazu nutzen, den Spieß umzukehren und in der Rolle des advocatus diaboli ein paar Probleme zur Sprache bringen, die sich bei dem Versuch einer Definition dessen, was eine Oper sei, ergeben. Denn ebenso unbestreitbar wie das genaue Geburtsdatum der Oper ist wohl die Tatsache, daß kaum eine Gattung an ihren Rändern so „ausgefranst” ist wie diese, daß die Grenzen zwischen Oper und anderen dramatischen, aber auch nicht dramatischen Gattungen um so mehr verschwimmen, je nachdrücklicher man sich um eine klare Unterscheidung bemüht.

2. Die Verbindungen der frühen Oper zu den traditionellen dramatischen Gattungen

2.1 Das beginnt bei dem Verhältnis von gesprochenem und gesungenem Drama—ein Faktum, das Musikhistoriker generell aus dem Blickwinkel der Oper diskutieren. Unbestreitbar ist das Neue um 1600 der in Musik gesetzte Dialog und mit ihm ein musikalischer Deklamationstonfall, den Jacopo Peri im Vorwort zum Partiturdruck der Euridice als „cosa mezzana” zwischen dem „parlare ordinario” und dem „cantare” beschrieb3 und damit auf eine Tradition verwies, die bis zu Quintilian und Boethius zurückreichte; wir verdanken Claude Palisca wichtige Studien zu diesem Überlieferungsstrang. Dieser Deklamationstonfall, in Verbindung mit einem darauf bezogenen instrumentalen Fundament, war das prinzipiell Neue an den Opern um 1600, auch wenn es Modelle dafür in der Psalmodie und in der epischen Rezitation gab. Peris Vorwort wie überhaupt die Diskussion um das „in armonia favellare”4 oder das „recitar cantando” läuft darauf hinaus, den Anteil der Musik an dieser neuen Art des Singens zu reduzieren, ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten emphatisch zu ignorieren und sich auf eine Deklamationsebene „unterhalb des Gesangs” zu begeben—tatsächlich verwendet Peri die Formulierung „scendesse tanto dalla melodia”.5

2.2 Peri schreibt aber auch: „avanzando (l’armonia) del parlare ordinario”6: Aus dem Blickwinkel des Sprechtheaters stellt das Mittelding zwischen Singen und Sprechen nämlich keine Abschwächung des Gesangs, sondern die Intensivierung einer Theaterdeklamation dar—eine Steigerung jenes dramatischen Deklamationstonfalls, der, ebenfalls seit Quintilian, in der Bühnensprache erwartet wurde. Dieser Traditionsstrang, der das „recitar cantando” eher mit der zeitgenössischen Bühnendeklamation als mit der antiken Rhetorik verband, wurde bisher von der Musikgeschichtsschreibung ignoriert, was um so seltsamer anmutet, als kein Geringerer als ausgerechnet Vincenzo Galilei, der Kronzeuge der musikalischen Antikenrezeption, hierin den Weg gewiesen hatte. Es ist bezeichnend, daß Galileis Vorschlag, ein moderner Sänger solle sich die Anregungen für die Ausführung eines solchen Gesangs bei den Berufsschauspielern der Commedia dell’arte holen, in der Mythenbildung um die antike Tragödie als Vorbild der Oper keinen Platz fand. Dabei nahm Galilei mit gerade dieser bisher nicht beachteten Bemerkung vorweg, was zwanzig Jahre später der wahre Ausgangspunkt für die Entstehung des komponierten Dialoges werden sollte, und schlug eine Brücke zwischen der Praxis und der Theorie, zwischen der höfischen und der städtischen Kultur, zwischen dem Theater und dem Gesang. Gegenüber der Behauptung, aus der Beschäftigung mit der antiken Tragödie sei die Oper entstanden, scheint Galileis Argumentation eher den umgekehrten Weg zu beschreiten: Die Beschäftigung mit dem modernen Theater könne eine Ahnung davon vermitteln, wie die Dichtersänger der Antike ihre Texte sangen. Nachdem nämlich der fiktive Bardi des Dialogo sich ausführlich über die Unvollkommenheiten einer Vokalmusik ausgelassen hat, in der die Worte des Textes auf der Grundlage des polyphonen Satzes wiederholt und durcheinander gesprochen werden, deutet er auf eine andere, weit geeignetere Methode des Textvortrags hin, die zu erläutern sein Gesprächspartner denn auch flugs bittet. Bardis Antwort ist unzweideutig:

& Se di cio vogliano intendere il modo, mi contento mostrargli dove & da chi lo potranno senza molta fatica & noia, anzi con grandissimo gusto loro imparare, & sarà questo. Quando per lor diporto vanno alle Tragedie & Comedie, che recitano i Zanni, lascino alcuna volta da parte le immoderate risa; & in lor vece osservino di gratia in qual maniera parla, con qual voce circa l’acutezza & gravità, con che quantità di suono, con qual sorte d’accenti & di gesti, come profferire quanto alla velocità & tardità del moto, l’uno con l’altro quieto gentilhuomo, attendino un poco la differenza che occorre tra tutte quelle cose, quando uno di essi parla con un suo servo, overo l’uno con l’altro di questi; considerino quando ciò accade al Prencipe discorrendo con un suo suddito & vassallo; quando al supplicante nel raccomandarsi; come ciò faccia l’infuriato, o concitato; come la donna maritata; come la fanciulla; come il semplice putto; come l’astuta meretrice; come l’innamorato nel parlare con la sua amata mentre cerca disporla alle sue voglie; come quelli che si lamenta; come quelli che grida; come il timoroso; e come quelli che esulta d’allegrezza. da quali diversi accidenti, essendo da essi con attentione avvertiti & con diligenza essaminati, potranno pigliar norma di quello che convenga per l’espressione di qual si voglia altro concetto che venire gli potesse tra mano.7

2.3 Zwar wissen wir generell wenig über die Art der Theaterdeklamation, aber liest man die Hinweise, die Angelo Ingegneri in seiner zwei Jahre vor dem Geburtsdatum der Oper verfaßten Schrift „Della poesia rappresentativa e del modo di rappresentare le favole sceniche” über die dramatische Darstellung gibt, so vermeint man eine Deklamation beschrieben zu sehen, die sich von Gesang kaum unterscheidet:

Nella voce adunque si considerano due cose; la quantità, cioè, ch’ella sia grave, acuta, grande, o piccola; & la qualità, cioè ch’ella sia chiara, roca pieghevole, dura, & simili. L’una, & l’altra di queste due conditioni s’ha a variare conforme à i soggetti, che si esprimono; come á dire nelle prosperità la voce devrà esser piena, semplice, e lieta; nelle contese, & dispute, eretta; nell’ira, atroce, & interrotta, & aspera; nel sodisfare altrui, piacevole, & sommessa; nel promettere, & consolare, ferma, & soave; nella commiseratione, piegata, & flebile; & nei gradi effetti, gonfia, & magnifica.”8

2.4 Ingegneris Bemerkungen machen deutlich, wie fließend zu Beginn der Gattungsgeschichte die Grenzen zwischen der neuen Art des Singens im Drama und dem Sprechdrama sind. Von der „natural favella”9 (Caccini), dem „parlare ordinario” (Peri), dem natürlichen Sprechen also konnte auch im Sprechdrama keine Rede sein—was auch bedeutet, daß das entscheidend Neue am „recitar cantando” weniger in der Verortung der Singstimme zwischen Singen und Sprechen als vielmehr in der Spannung zwischen Singen und Spielen lag—in der Idee, die Darstellung der Affekte auf zwei unterschiedliche Bereiche aufzuteilen und Seelenschmerz und Herzensfreude nicht mehr wie in der traditionellen Rhetorik allein dem Darsteller anzuvertrauen, sondern eine zweite Schicht und damit gleichsam einen emotiven Kommentar „von außen” zu schaffen. Denn diese instrumentale Einbettung der Singstimme kannte das Sprechdrama nicht, wohl aber die epische Rezitation. Die Oper ist deshalb auch das Ergebnis einer Gattungsmischung von Epos und Drama. Und darüber hinaus bedeutet der komponierte Dialog in der immerwährenden Auseinandersetzung zwischen Komponist und Interpret um die Vorherrschaft ein Aufholen des Komponisten gegenüber dem Interpreten. Denn mit der Komposition des Dialogs schrieb der Musiker die rezitativische Dramaturgie fest, anstatt sie, wie in der epischen Rezitation über melodischen Modellen, dem Sänger zu überlassen. Die Komposition wurde zu jenem Teil der Inszenierung, den im Sprechtheater der Schauspieler besorgt hatte. Die „Kunst” verlagert sich im „recitar cantando” vom Interpreten auf den Komponisten, während dem Interpreten eine neue Rolle zukommt. Die auffallend zahlreichen Rezitationsmodelle in den Opern um 1600—die Prologe, aber auch Bittgesänge wie „Possente spirto”, Hymnen wie „Non curi la mia pianta” oder Botenberichte wie „Sotto l’ombra di bel crinito alloro” machen deutlich, wie das Drama mit der musikalischen Technik der Rezitationsmodelle eine epische Haltung annimmt.

2.5 In Cavalieris glücklicher Formel vom „recitar cantando” verbirgt sich noch eine andere Tradition, die die These von den fließenden Gattungsgrenzen auch in anderer Hinsicht unterstützt und deutlich macht, wie wenig es bei der Entwicklung des neuen Stils um die Suche nach einem neuen Sprechtonfall (im Vergleich zu einem theatralischen Deklamationstonfall) ging. In De re edificatoria hatte Leon Battista Alberti die drei klassischen Dramengattungen als Tragödie beschrieben, in der die Dichter „tyrannorum miserias recitarent”, als Komödie, in der sie „patrum familias curas et sollicitudines explicarent” und als Satyrspiel, in der sie „ruris amoenitates, pastorumque amores cantarent”.10 Daß die Oper von Anbeginn an eine hybride Form, eine Mischung aus Tragödie und Pastorale ist, wird auch an dieser Formulierung deutlich; zwischen dem Rezitieren und dem Singen zu vermitteln, musikalische Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln, in denen die Schicksale der Tyrannen mit den Mitteln des Gesangs sinnfällig gemacht werden konnten, war eine ebenso vornehme Aufgabe wie die literarische Aufhebung der antiken Stilhöhenregel im Pastoraldrama. Die Oper setzte mit den Mitteln der Musik fort, was das Sprechtheater in den Dramen Tassos und Guarinis begonnen hatte.

2.6 Neben dem Verhältnis zwischen gesprochenem und gesungenem Drama ist es weiterhin das Verhältnis zwischen weltlicher und religiöser Thematik, in dem die Gattungsgrenzen der Oper verschwimmen. Für Pirrotta waren diese Grenzen klar gezogen: Oper handelte von mythologischen Sujets; in seiner Aufzählung der frühen Opern kommen die religiösen Themen nicht vor. Was an der geistlichen Oper so geistlich ist, und ob sie deshalb ein „sub-genre” genannt werden müsse, ist das Thema von Robert Kendricks Beitrag. Ich möchte statt dessen die Frage stellen, ob es in der Vorstellung des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts überhaupt einen Unterschied zwischen „mythologischer” und „geistlicher” Oper gab, oder ob nicht auch im Bereich der Sujets die Idee von der Vermischung der Genres stärker war als der Wille zur Abgrenzung. Cavalieri jedenfalls, nach eigenem Bekunden und durch das Zeugnis Peris11 einer der Väter der Oper, machte zwischen den beiden Arten keinen Unterschied; und wenn sich, wie Pirrotta es formuliert hat, der musikalische Stil der Rappresentatione von den beiden Euridices vor allem durch geringere emotionale Intensität und durch einen stärkeren Willen zu formaler Organisation unterschied, so bedeutete dies am Anfang einer Gattungsentwicklung nicht etwa eine Sackgasse oder einen Sonderweg, sondern schlicht eine zweite Möglichkeit, Drama und Musik aufeinander zu beziehen.

2.7 Um die religiöse Thematik von Anfang an einer anderen Einflußsphäre zuordnen zu können, hat die Musikgeschichtsschreibung die Rappresentatione und mit ihr diese zweite Möglichkeit einer anderen Gattung, dem Oratorium, zugeordnet, das doch, anders als die Oper, überhaupt erst eine Generation später so richtig zum Leben erwachen sollte. Dabei hat die Rappresentatione mit dem, was ein Oratorium später charakterisieren sollte, wenig gemein. Eigentlich entstammt das meiste, was die Rappresentatione ausmacht, der dramatischen Tradition—die szenische Darstellung, die gleichsam abendfüllende Länge, die Aufteilung in drei Akte, der Tanz, die Echoszene, der Coup de théâtre und so fort. Daß dies alles mit einer moralisierenden Allegorie verbunden wird, daß Cavalieri sich zudem der textlichen und musikalischen Traditionen der religiösen Dialoglauda bedient, sollte meiner Meinung nach nicht so sehr für die Zugehörigkeit dieses Werkes zur Geschichte des Oratoriums sprechen als vielmehr wiederum dafür, wie wenig eindeutig, wie ungeheuer vielfältig sich das musikalische Drama zu Beginn seiner Geschichte präsentiert. Daß, wie Monteverdi es später forderte, Menschen aus Fleisch und Blut wie Orfeo oder Arianna die Opernbühne bevölkern sollten und nicht Allegorien und Personifikationen, erfüllte auch das religiöse musikalische Drama bald. Agostino Agazzaris Eumelio von 1606 ist der erste Versuch, das Angebot der Florentiner Euridices mit dem der Rappresentatione zu verbinden: Textlich ein Pastoraldrama mit moralischem Unterton, in dem mythologische Gestalten wie Apollo und Caronte, ein fiktiver Halbbruder Orfeos mit Namen Eumelio und personifizierte Laster miteinander agieren, lehnte sich Agazzari musikalisch stärker an Cavalieris Idee der formalen Geschlossenheit an als an die musikalische Prosa der Florentiner. Und zwischen den musikalischen Heiligengeschichten wie S. Orsola, S. Alessio oder S. Bonifatio und den mythologischen Opern ließen sich schließlich keine Unterschiede mehr ausmachen.

2.8 Nun mag man einwenden, alle diese religiösen Opern hätten sich an der mythologischen Oper der Florentiner orientiert. Dem sei ein anderes Argument entgegengehalten: Gar so heidnisch, wie die italienische Theatertradition es glauben machen wollte, waren auch die mythologischen, speziell die Orpheus-Opern nicht. Das erste weltliche Drama in italienischer Sprache erwuchs dramaturgisch aus der Sacra Rappresentazione; und Orpheus war nicht nur der göttliche Sänger und als solcher für die Oper geeignet, sondern traditionell auch eine mit Christus verwandte Gestalt—der, der die Hölle besiegt hatte. Die Unterweltszenen in den Orpheus-Opern und jene in den religiösen Werken hatten deshalb auch eine gemeinsame Wurzel. Und man braucht nur an den Schluß von Monteverdis Orfeo zu denken, um die Nähe der vermeintlich heidnischen Oper zu christlichem Gedankengut festzustellen. Warum sich in Monteverdis Partiturdruck ein veränderter Schluß findet, wird wohl niemals mehr eindeutig zu klären sein. Unbestreitbar aber ist, daß die veränderte Version eindeutig religiös konnotiert ist—abzulesen an den Schlußversen „E chi semina fra doglie / ogni grazia e frutto coglie”. Textliche Anspielungen dieser Art finden sich in den mythologischen Libretti allenthalben, und es wäre in Zeiten der Gegenreform, in denen religiöses Denken und Handeln alle Lebensbereiche erfassen sollten, wohl auch eher ungewöhnlich, wenn gerade die Oper davon unberührt geblieben wäre oder sich gar verweigert hätte. Und schließlich bringen Werke wie La vita humana den Musikhistoriker endgültig in Erklärungsnot: Ein moralisch-allegorisches Spiel mit den musikalischen Mitteln der Oper in einer Zeit, da sich das Oratorium tatsächlich von der Oper abgesetzt hatte: Wollte man strenge Maßstäbe der Gattungszuschreibung anlegen, so würde man an diesem Werk scheitern. Konzediert man aber, daß die Gattung Oper der religiösen Thematik gegenüber genau so offen ist wie dem Sprechdrama, so erledigt sich das Problem gleichsam von selbst.

2.9 Ein dritter Punkt (und hier möchte ich etwas mehr ins Detail gehen) betrifft das Verhältnis von Oper und Intermedium—ein so häufig diskutiertes Thema, daß es verwunderlich ist, wie wenig dabei über das Intermedium nach 1600 nachgedacht wurde. Es scheint, als sei der Weg vom Intermedium zur Oper eine Einbahnstraße und das Intermedium in dem Augenblick obsolet gewesen, in dem die Oper die Bühne betreten hätte. Zugegeben: Die Situation der musikalischen Überlieferung solcher späten Intermedien ist so desolat, daß sich ein Urteil über diese musikdramatischen Formen wohl verbietet; dies kann aber nicht die einzige Erklärung dafür sein, daß Werke wie Girolamo Giacobbis Aurora ingannata oder Domenico Bellis Orfeo dolente bisher das Interesse der Opernforschung nicht wecken konnten. Denn mit diesen beiden auch als Partitur überlieferten Stücken liegen Intermedien vor, die die Frage nach den Gattungsgrenzen erneut virulent werden lassen. Bestand das Neue in der Oper gegenüber dem Intermedium des 16. Jahrhunderts prinzipiell in der musikalischen Gestaltung des Dialogs, d.h. im „recitar cantando” der Protagonisten, so muß angesichts der beiden Partituren die Frage gestellt werden, ob diese Unterscheidung nach 1600 noch ihre Gültigkeit hat bzw. ob nicht auch das Intermedium parallel zur Oper eine Entwicklung durchmachte, die in dieselbe Richtung wies. Nino Pirrotta, als einer der wenigen, der diese Werke überhaupt erwähnten, zählte sie in seinem Artikel „Intermedium” in der alten MGG „ihres Stils wegen völlig zur Geschichte der Oper”12 und vollendete damit den Zirkelschluß, den er mit seiner exklusiven Definition der Oper eröffnet hatte. Dabei sollte nicht nur die Bezeichnung „Dramatodia”, die Giacobbi seiner Aurora ingannata gab, zum Nachdenken anregen, sondern vor allem Bellis Orfeo dolente, der in vielfacher Hinsicht die Probleme einer einseitigen Operngeschichtsschreibung verdeutlicht. Orfeo dolente steht scheinbar zwischen allen Gattungen, und es sei mir gestattet, deshalb hier etwas genauer auf dieses Werk einzugehen.

2.10 Schon die Entstehungsgeschichte des Orfeo dolente sollte uns zu denken geben. Möglicherweise entstand der Text bereits 1608 in Zusammenhang mit der Hochzeit Cosimo de’ Medicis mit Maria Magdalena von Österreich; Angelo Solerti bezog Gabriello Chiabreras Äußerung über zwei „favolette: una tutta lieta e festosa, e l’altra dolorosa” auf jene Favolette per rappresentarsi cantando, die Chiabrera 1615 publizierte.13 Es sei mir erlaubt, ein weiteres Indiz hinzuzufügen, das diese frühe Entstehung des Pianto d’Orfeo belegt: Einer der Klagegesänge des Orpheus nämlich, „Indarno Febo il suo bell’oro eterno”, erschien in der Vertonung Francesco Rasis und mit der Angabe des Textautors in Rasis Vaghezze di musica im Jahre 1608 im Druck.14 Favoletta—dieser Gattungstitel bezog sich explizit auf die „Favola” der frühen Oper, wobei die Verkleinerungsform den Umfang, nicht aber eine veränderte Dramaturgie bezeichnete. Il pianto d’Orfeo, möglicherweise die „favoletta dolorosa” von 1608, hatte wie die ersten Opern fünf Szenen, drei Protagonisten und einen Chor, monologische und dialogische Szenen, wobei die monologischen strophisch angelegt waren.15 Eine dramatische Handlung im Sinne einer Geschichte mit Exposition und Klimax war Il pianto d’Orfeo freilich nicht. Alle fünf Teile handeln, in unterschiedlichen Versarten und Strophenformen, doch immer nur von der Verzweiflung Orfeos und dem vergeblichen Versuch seiner Mutter Calliope, ihn wieder glücklich zu machen.

2.11 Domenico Belli dürfte auf die Ausgabe von 1615 zugegriffen haben, als er seine Intermedien konzipierte. Allerdings veränderte er den Text etwa von der Mitte an in signifikanter Weise.16 Chiabrera hatte seinen Text in geradezu klassischer Symmetrie gestaltet: Die erste, die dritte und die fünfte Szene bestanden nahezu ausschließlich aus Klagegesängen des Protagonisten, während die zweite Szene eine lebhafte Handlung der drei Protagonisten und die vierte einen Monolog der Calliope darstellte. In den inhaltlich so ähnlichen Klagegesängen hatte Chiabrera durch die verschiedenen Versmaße jedoch zumindest metrisch Abwechslung geschaffen: Im ersten Teil zu Beginn eine Serie aus fünf Settenario-Strophen und zum Schluß eine Ottava-Strophe, im dritten zu Beginn fünf Settenario-Strophen, am Schluß sechs Quartinen, im fünften schließlich fünf Ronsard-Strophen des Schemas 8-4-8-8-4-8, was in Zusammenhang mit Orfeos Klage um so erstaunlicher ist, als dieses Versmaß generell den fröhlichen Affekten und tänzerischer Musik vorbehalten war.

2.12 Schon die Tatsache, daß Belli diese Favoletta zur Grundlage von Intermedien für eine Aufführung von Tassos Aminta wählte, ist eine Überlegung wert. Daß Intermedien sich für Komödien, aber auch für Pastoraldramen, weniger aber für Tragödien eigneten, war eine von der Theorie allgemein erhobene, wenn auch in der Praxis nicht immer respektierte Forderung. Die Intermedien für Pastoraldramen schrieben oftmals die Handlung oder zumindest den arkadischen Schauplatz fort—tanzende Satyrn und Nymphen etwa, Meeresgottheiten, die sich im Wasser tummelten, aber auch mythologische Szenen wie etwa Apollo im Kreise der Musen. Bisweilen waren die Intermedien auch durch ein gemeinsames Thema verbunden—etwa die vier Elemente oder die sieben Planeten. Immer aber waren diese Intermedien festlich in der Atmosphäre, prächtig in der Ausstattung, üppig im Klang der Stimmen und der Instrumente. Wenn nun Belli Chiabreras Pianto d’Orfeo mit Tassos Aminta verband, so verkehrte er die dramatischen Aufgaben von Schauspiel und Intermedium, die Wertigkeiten dieser beiden Theaterformen in ihr Gegenteil, indem er die tragische Komponente mit der ganzen Wucht der Klagegesänge dem Intermedium zuwies und damit die durchaus auch im Pastoraldrama vorhandene Tragik abschwächte. Das Drama übernahm auf diese Weise den vergnüglicheren Part, während in den Intermedien jener pathetische Ton zu hören war, der die ersten Opern gekennzeichnet hatte.

2.13 Tatsächlich komponierte Belli in dem Willen, diesen tragischen Ton in seinem Orfeo dolente17 besonders deutlich hervorzukehren, zumindest teilweise gegen die formale Geschlossenheit der Textstrophen an. Dies wird gleich bei Orfeos erstem Auftritt deutlich. Auf den ersten Blick erscheint die musikalische Form der fünf gleichgebauten Textstrophen wie eine strophische Variation nach bewährtem Muster: Über einem zumindest in seinen wichtigsten Stufen gleichbleibenden Baß formuliert die Singstimme immer neue melodische Varianten. Bei näherem Hinsehen aber wird deutlich, daß die Übereinstimmungen im Baß der einzelnen Strophen bestenfalls oberflächlich zu nennen wären. Den strengen strophischen Rahmen bildet das fünfmal erklingende Instrumentalritornell—vier Takte vierstimmiger Streichersatz, den Belli mit der Szenenanweisung „Orfeo sonando con la Lira il seguente Ritornello” dem Protagonisten selbst zuweist. Man darf sich hier eine ähnliche Lösung vorstellen, wie Marco da Gagliano sie für „Non curi la mia pianta o fiamma o gelo” vorgeschlagen hatte: ein Violenensemble in der Gasse, das den Klang der Lira nachahmt, wenn Apollo sie wie zum Spielen anlegt. Blickt man auf die Basslinien der fünf Strophen, so stellt man dann freilich nur selten Korrespondenzen fest, etwa zu Beginn der ersten und der zweiten Strophe, gleichsam als wolle der Komponist die Strophigkeit für dieses Stück reklamieren, um sie dann Stück für Stück aufzugeben und jeweils direkt auf die individuelle Situation zu reagieren. Dabei entstehen extrem dissonante, harmonisch bis zum b-moll-Klang reichende Wendungen von einer affektiven Spannung, die jeder Oper zur Ehre gereicht hätte, und die durchaus über das hinausgehen, was Peri und Caccini sechzehn Jahre zuvor harmonisch gewagt hatten, Einem Abschnitt wie „Deh se fur miei lamenti” ist nicht mehr anzumerken, daß es sich textlich um eine von fünf gleichgebauten Strophen handelt; musikalisch ist sie wie ein besonders expressives „recitar cantando” behandelt. (Beispiel 1)

2.14 Bellis Absicht war ganz offensichtlich, seinen klagenden Orfeo in die Gesellschaft jener Orpheus-Gestalten zu stellen, die, um mit Monteverdi zu sprechen, „die Herzen bewegten, weil er ein Mensch war”. Der Zufall will es, daß Monteverdi genau in demselben Jahr, in dem Bellis Orfeo dolente aufgeführt wurde, mit Alessandro Striggio jenen berühmten Briefwechsel begann, in dem er seine Opernästhetik ausbreitete und dabei das musikalische Drama gegen das Intermedium absetzte. Dabei prägte er die Unterscheidung zwischen „parlar cantando” für die Oper, d.h. die Favola, und „cantar parlando” für das Intermedium sowie jenen oft zitierten Satz, daß Arianna und Orfeo die Herzen bewegen konnten, nicht aber die Winde. Eine Favola, so Monteverdi am 9. Dezember 1616,18 habe nach einem einzigen Ziel zu streben, weshalb die Gestaltung des dramatischen Dialogs in der ordnenden Hand eines einzigen Komponisten liegen müsse, während in den Intermedien das „cantar di garbo”, also die ornamentierten geschlossenen Formen die zentrale Rolle zu spielen habe.

2.15 Bellis Umgang mit Chiabreras Text zeugt von einer gegenteiligen Meinung. Indem er die Strophigkeit vermeidet und die Texte musikalisch behandelt, als wären sie freier Dialog im Sinne des „parlar cantando” (oder im Sinne des „in armonia favellare”, das dieser Tagung den Titel gibt), stellt Belli die Intermedien in die Tradition der Favola per musica. Gehören seine Orpheus-Intermedien deshalb zur Geschichte der Oper? Wären sie durch diese besondere Vertonung deshalb keine Intermedien mehr? Oder müssen wir im Angesicht solcher Stücke unsere Definition dessen, was Oper ist, überdenken und konstatieren, daß Monteverdis Meinung nicht unbedingt auf andere Komponisten und andere Werke übertragbar war? Der Schwierigkeit, Gattungsgrenzen zu ziehen, der Unterschiede zwischen den Erfordernissen eines kontinuierlich erzählten Dramas und einer Serie von Intermedien war sich Belli durchaus bewußt. Davon zeugen vor allem die Veränderungen, die er im zweiten Teil der Chiabreraschen Favoletta vornahm, und die wie Etüden über „Favola” einerseits und „Intermedio” andererseits wirken. Literarisch erreichen diese neuen Texte die Qualität der Chiabreraschen nicht; sie sind nicht viel mehr als eine Zusammenfügung gängiger Floskeln in Versmaßen, die kaum auf den Inhalt oder auf die Situation bezogen scheinen. Dramaturgisch aber sind diese Veränderungen höchst aufschlußreich.

2.16 Im dritten Intermedium behält Belli die Settenario-Strophen am Anfang bei und vertont diese wie die Settenario-Strophen des ersten Intermediums, d.h. durchkomponiert, aber durch ein Ritornell gegliedert. An die Stelle des kommentierenden Chores und der folgenden, sprachlich höchst komplexen Quartinen setzt er dann jedoch einen Dialog zwischen Calliope, Orfeo, einem Choristen und dem Chor, der in Rezitativversen beginnt und mit dem Einsatz des Chores zu Ottonari wechselt. Gegenüber der Favoletta Chiabreras verstärkt Belli in diesem Intermedium den dramatischen Aspekt, den Dialog, die Affektdarstellung; fast könnte man meinen, Belli habe die allzu intermedienhaften Züge der Favoletta für sein Intermedium dramatisieren wollen. Anders das vierte Intermedium. Hier führt Belli neue Personen ein—die drei Grazien, die einzeln, aber auch im Ensemble singen und die düstere Stimmung aufzuhellen versuchen. Und auch wenn Orfeo in seinem Klageton standhaft bleibt, erscheint er hier zum ersten Mal doch marginalisiert; in diesem Intermedium überwiegt die heitere, arkadische Atmosphäre der Grazien. Mit der vierten Szene der Favoletta, einem Monolog der Calliope, hat dieses Intermedium nichts mehr gemein, und es erhebt sich die Frage nach den Gründen dieser drastischen Veränderung, die durch einen Blick auf das letzte Intermedium deutlich werden—bei Chiabrera ein neuerlicher Klagegesang des Orpheus, bei Belli ein weiterer Auftritt der Grazien, die beschlossen haben, Orpheus mit seinen Klagen sich selbst zu überlassen und Amor zu feiern; das letzte Intermedium schließt mit einem Tanz der Hirten und Nymphen. Die größere Pracht, die Wendung zu allgemeiner Fröhlichkeit, die Vertreibung des Orpheus aus dem Liebesparadies sind hier tatsächlich der Aufführungssituation als Intermedium geschuldet; nach dem Happy ending des Aminta wäre ein Klagegesang des Orpheus mehr als deplaziert gewesen; eine Favoletta hätte vielleicht traurig enden können, ein ganzer Theaterabend dagegen nicht. Belli war sich bewußt, daß die Erwartungen des Publikums und die Konventionen nicht gänzlich mißachten durfte und gab zum Ende hin dem Intermedium, was des Intermediums war. Die letzte Szene der Chiabreraschen Favoletta wäre ungeachtet ihres tänzerischen Versmaßes als Intermedium völlig undenkbar gewesen.

2.17 Es fehlt hier die Zeit, auch Girolamo Giacobbis Aurora ingannata eingehender zu betrachten. Schon ein flüchtiger Blick auf den Druck von 160819 aber macht deutlich, daß diese Intermedien in noch viel stärkerem Maße „dramatisch” im Sinne einer fortlaufend erzählten zusammenhängenden Handlung und im Sinne eines „parlar cantando” sind. Auch als Oper im strengen, exklusiven Sinn Pirrottas würde Aurora ingannata dramaturgisch Sinn machen, und mehr noch als in Bellis Orfeo dolente lehnt sich der musikalische Dialog an die Florentiner und Mantuaner Vorbilder an. 1608, im selben Jahr, in dem Chiabrera seine Favoletta konzipierte, nahm der Librettist Ridolfo Campeggi freilich die Lizenzen, die das Intermedium gegenüber der Favola per musica bot, zum Anlaß, einige dramatische Ideen zu erproben, die in der Favola per musica eher ungewöhnlich gewesen wären, die aber nur wenig später als eine der besten Möglichkeiten angesehen wurden, den Handlungs- und Personenkanon der Favola zu erweitern: Der Gesang von Sonno und Morfeo etwa dürfte das erste komische Duett der Operngeschichte darstellen, der Beginn des vierten Intermediums die erste Schlafszene und der weitere Verlauf die erste Liebesintrige. Was Giacobbis „Dramatodia” von den Favole per musica unterscheidet, ist weder der Handlungsverlauf noch der pathetische Ton des „recitar cantando”; es ist vielmehr die leichte Hand, mit der Campeggi Tragisches und Komisches aufeinander bezieht, mit der er der geforderten Wahrhaftigkeit der Charaktere mit Traumillusionen begegnet und damit das Gefühls- und Stimmungsspektrum erweitert. Daß Aurora ingannata—die „Dramatodia”, die „Canti rappresentativi”, die Intermedien—in der Operngeschichtsschreibung keinen Platz gefunden hat, macht das ganze Dilemma einer Gattungsgeschichte deutlich und ist um so bedauerlicher, als hier zu einem sehr frühen Zeitpunkt Ideen verwirklicht sind, die in den als „Opern” apostrophierten Werken erst deutlich später Eingang finden.

3. Ergebnisse

3.1 Hat die Oper also wirklich eine so klar definierte Geburtsstunde, wie Pirrotta sie beschrieb? Oder ist diese Geburtsstunde das Ergebnis einer Selektion der Musikgeschichtsschreibung, die nach sozusagen reinrassigen Vorfahren einer später formulierten Opernästhetik suchte? Sind Werke wie Peris und Caccinis Euridice, Monteverdis Orfeo und Gaglianos Dafne „landmarks” einer neuen Gattung oder vielleicht singuläre Erscheinungen, jeweils individuelle Sackgassen, die sich erst durch die neuerliche Vermischung mit Ideen aus anderen Gattungen zu neuen Wegen öffneten? Und schließlich: Sind die Grenzen zu den benachbarten Gattungen, den zahlreichen Möglichkeiten dramatischer Gestaltung mit den Mitteln der Musik wirklich so klar gezogen, daß eine genaue Zuordnung möglich ist? Lauter rhetorische Fragen, die für mich nur eine negative Antwort zulassen.

3.2 Was eine Oper sei, mag zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem klar umgrenzten Ort für einen Moment der Gattungsgeschichte eindeutig gewesen sein; davor, danach und anderswo aber konnte alles ganz anders aussehen. Und vielleicht ist gerade dies die Stärke der Oper und das spezifische Merkmal, das ihre Kontinuität bis in die heutige Zeit garantiert: die Fähigkeit, eben nicht klar umrissen, nicht berechenbar zu sein, sondern chaotisch und regellos, unsystematisch und untheoretisch und deshalb offen für Einflüsse von allen Seiten.


Anmerkungen

* Silke Leopold (silke.leopold@urz.uni-heidelberg.de) is Professor of Musicology and Chair of the music department at the University of Heidelberg and is considered one of the leading German music scholars of her generation. Her examinations of vocal music, particularly opera, from the seventeenth to the nineteenth century address a wide range of topics, including the investigation of sources, the history of genres and sociological issues relating to this repertory. Her work is informed by a profound knowledge of the wider cultural contexts within which the music was composed. A prolific author, she has contributed important articles to the Neues Handbuch der Musikwissenschaft (from 1985), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters and the second edition of Die Musik in Geschichte und Gegenwart; she is also editor of the series Bärenreiter Studienbücher zur Musik (from 1992) and writes frequently for German radio stations.

1 Nino Pirrotta, „Early Opera and Aria,”, in: New Looks at Italian Opera: Essays in Honor of Donald J. Grout, hrsg. von William W. Austin, (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1968), 39–107. In italienischer Sprache in Li Due Orfei (Turin: ERI, 1969, 21975).

2 Rappresentatione di Anima, et di corpo / Nuovamente posta in musica dal Signor Emilio del Cavalliere / per recitar Cantando (Rom: N. Mutii, 1600).

3 Das Vorwort ist veröffentlicht in Angelo Solerti, Le origini del melodramma (Turin: Bocca, 1903; Nachdruck, Hildesheim: G. Olms, 1969), 43–9.

4 Diese Formulierung entstammt Giulio Caccinis Vorwort zu Le nuove musiche; veröffentlicht in Solerti, Le origini del melodramma, 53–71; hier S. 57.

5 Solerti, Le origini del melodramma, 45.

6 Solerti, Le origini del melodramma, 45.

7 Vincenzo Galilei, Dialogo della musica antica et della moderna (Florenz: G. Marescoti, 1581), 89.

8 Angelo Ingegneri, Della poesia rappresentativa e del modo di rappresentare le favole sceniche (Ferrara: Niccolò Veteri, 1598; Faksimile hrsg. von Maria Luisa Doglio, Modena: Ed. Panini, 1989), 76 f.

9 Giulio Caccini, Vorwort zum Partiturdruck der Euridice, in Solerti, Le origini del melodramma, 51.

10 Vgl. hierzu Wolfgang Osthoff, Theatergesang und darstellende Musik (Tutzing: H. Schneider, 1969), 1:34.

11 Im Vorwort zu L’Euridice; Solerti, Le origini del melodramma, 45.

12 Nino Pirrotta, Artikel „Intermedium”, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Friedrich Blume (Kassel: Bärenreiter-Verlag, 1957), 6:1325.

13 Angelo Solerti, Gli albori del melodramma (Mailand: Sandron ,1904; Nachdruck, Hildesheim: G. Olms, 1969), 1:110, sowie Solerti, Musica, Ballo e Drammatica alla Corte Medicea dal 1600 al 1637. Notizie tratte da un diario, con appendice di testi inediti e rari (Florenz: Bemporad & Figlio, 1905; Nachdruck, Bologna: Forni, 1969; und New York: Benjamin Blom, 1968), 44.

14 Zu Rasis Vertonung siehe Silke Leopold, Al modo d’Orfeo: Dichtung und Musik im italienischen Sologesang des frühen 17. Jahrhunderts, Analecta Musicologica 29, 2 Bde. (Laaber: Laaber-Verlag, 1995), 1:134 f.

15 Der Text von Il pianto d’Orfeo ist veröffentlicht in Solerti, Gli albori del melodramma, 3:89–100.

16 Der Text von Orfeo dolente ist veröffentlicht in Solerti, Gli albori del melodramma, 1:375–91.

17 Orfeo dolente / musica di Domenico Belli / diviso in cinque intermedi / con li quali / il Signor Ugo Rinaldi / ha rappresentato L’Aminta favola boschereccia / del Signor Torquato Tasso / nouamente composta et data in luce (Venetia: Appresso Ricciardo Amadino, 1616).

18 Der Brief ist veröffentlich bei Domenico de’ Paoli, Claudio Monteverdi. Lettere, dediche e prefazioni (Rom: De Santis, 1973), 86–8; englische Übersetzung in Denis Stevens, The Letters of Claudio Monteverdi (Oxford: Oxford University Press, 1980).

19 Girolamo Giacobbi, Dramatodia overo canti rappresentativi sopra l’Aurora ingannata (Venedig 1608; Nachdruck in Bibliotheca musica Bononiensis 4, 5, Bologna: Forni, 1969).

Beispiel

Beispiel 1: “Deh, se fur miei lamenti,” aus Domenico Belli, Orfeo dolente, 1616